Textilkunst der Maya Guatemalas

 

Das Hochland und auch die Tiefebenen Guatemalas verfügen über eine reiche und hochentwickelte Textiltradition, deren Ursprünge bis weit in die vorspanische Zeit zurückreichen. Das Maya Tiefland besteht aus der Halbinsel Yukatan und den tropischen Regenwäldern im Norden Guatemalas und in Belize, das Hochland dagegen wird von der Gebirgskette gebildet, die sich im Westen Guatemalas bis nach Mexiko hineinzieht und von reger Vulkantätigkeit geprägt ist. Die Mannigfaltigkeit der regionalen Maya-Trachten und ihre Web- und Stickkunst bietet noch heute ein getreues Abbild der geografischen, kulturellen und sprachlichen Vielfalt Guatemalas. Besonders im Hochland Guatemalas besaßen bis in die 1970er Jahre hinein eine große Zahl von Maya-Gemeinden eine für sie charakteristische Tracht, die bis in die Zeit der Conquista zurückreichte, die sich von denen der Nachbargemeinden unterschied und anhand derer folglich die Herkunft der TrägerInnen zweifelsfrei zugeordnet werden konnte.

Die Geschichte der Maya reicht weit zurück, die Anfänge der von den Maya gegründeten Stadtstaaten mit den eindrucksvollen Pyramidenbauten wie z.B. Tikal oder Palenque lassen sich bis etwa 1500 v. Chr. zurückdatieren, die Blütezeit der klassischen Periode liegt etwa im Zeitraum von 250 bis 800 n. Chr., ab etwa 900 n.Chr. ist wohl aufgrund von ökologischen Veränderungen und Nahrungs-und Ressourcenknappheit und zu starkem Bevölkerungswachstum ein allmählicher Niedergang der Stadtstaaten zu verzeichnen. Die heutigen Maya sind hauptsächlich in Guatemala und im karibischen Teil Mexikos, in Honduras und in den Grenzgebieten Belizes und El Salvadors ansässig und waren - neben den Inka in Peru und den Azteken in Mexiko -  eine der drei Hochkulturen, die auf dem Meso- und Südamerikanischen Kontinent existierten, als die Spanier unter Kolumbus und den ihm nachfolgenden Konquistadoren im 16. Jahrhundert den Kontinent in Besitz nahmen. Die Mayas nennen sich selbst „Maismenschen“, ihre kulturellen Errungenschaften, die auf der Kultivierung des nährstoffreichen Nahrungsmittels Mais beruhten, waren besonders in Religion, Webkunst, Landwirtschaft und Kunst, Mathematik und Astronomie und Kalenderwesen herausragend im Vergleich zu anderen Hochkulturen. Gegenwärtig existieren noch 22 ethnische Gruppen, die ihren Ursprung auf die Maya zurückführen und eigene Sprachgruppen darstellen, u.a. die Quiché, die Mam, die Cakchiquel und die Kekchi, und die Maya insgesamt stellen mit knapp 10 Millionen Einwohnern etwa die Hälfte der Bevölkerung Guatemalas. Sie sind damit nach den in der Andenregion lebenden indigenen Quechua-Sprechern Südamerikas die zweitgrößte indigene Ethnie der westlichen Welt.

Aufgrund des feuchten Klimas im Maya Gebiet haben sich nur wenige vorspanische Textilien und Webarbeiten erhalten, anhand von ethnohistorischen und archäologischen Fundstücken von Zeremonialkleidung ihrer Herrscher konnte jedoch nachgewiesen werden, dass die Kleidung der Maya in vorspanischer Zeit aus Fasern der Baumwolle und einer bestimmten Agave-Arten gewebt wurde. Die älteste Webarbeit, die erhalten geblieben und gefunden werden konnte, stammt aus dem Grab eines hohen Würdenträgers nahe La Venta in Zentralmexiko, und datiert von etwa 1000 v.Chr.

Die Entstehung der Welt und das Schalten und Walten ihrer Götter im Kosmos war ein zentrales Element in der Religion und der Gedankenwelt der Maya. Im Popol Vuh, dem heiligen Buch der Quiché- Maya, wird der Schöpfungsmythos der Maya erzählt und dargestellt, wie der Maisgott Hun Nal Yeh die Welt erschuf, indem er die vier Ecken des Kosmos, den Mittelpunkt der Erde in Form eines Ceiba Baums, Tag und Nacht, die Sterne und die Planeten, die Milchstraße und die Zeit erschuf. Die Glyphe (das Namenszeichen, ähnlich einer Hieroglyphe), die für diesen Entstehungsprozess steht, ist die Darstellung einer flachen Scheibe mit einem Kreis in der Mitte und damit die typisierte Darstellung einer Spinnwirtel. Die gleiche Glyphe bezeichnet den Vorgang des Webens, ganz wortwörtlich „runde Bewegungen machen“. Die dem Entstehungsprozess zugrundeliegende Vorstellung ist also die eines Weltenwebers, dessen Spindel den Faden der Welt und das Gewebe des Kosmos webt und die Zeit am Laufen hält, und der, indem er die Spindel niemals ruhen lässt, die Bewegungen der Sterne, der Planeten und des ganzen Kosmos kontrolliert. Die Muster und Farbwechsel, die die gewebten Stoffe zeigen, verweisen auf die kosmische Ordnung, die Mächte der Natur und die Götter und die Weltenzyklen, deren Zeitdauer und Ablauf die Astronomen der Maya mit großer Genauigkeit und wissenschaftlicher Akribie beobachteten und dokumentierten. Deshalb war das Weben eine heilige Tätigkeit, und oblag genau aus diesem Grund ausschließlich den Frauen, weil nur sie Leben schenken konnten. Der Göttin der Webkunst Ixchel war bei den Maya gleichzeitig die Schutzgöttin für schwangere Frauen, Mütter und Hebammen. Die Webkunst war übrigens in vorspanischer Zeit nicht nur in den Maya-Regionen, sondern auch in allen anderen Teilen Meso- und Südamerikas eine ausschließlich weibliche Domäne.

Die aus den pflanzlichen Fasern gesponnenen Fäden wurden mit pflanzlichen, tierischen und mineralischen Farbstoffen gefärbt bevor sie verarbeitet wurden. Die Herstellung der Stoffe und Kleidungsstücke oblag allen Frauen. Sie spannen, zettelten, webten und nähten. Zum Weben benutzten sie das Rückengurt-Webgerät (backstrap-loom, Abb. 1), das bis in die heutige Zeit von den Maya genutzt wird. Dieser Webrahmen wird mit dem oberen Ende an einem Baum, Pfosten oder einem Haken in der Wand befestigt, und das hintere Ende wird um den Rücken der Weberin gelegt, dann beginnt das Weben. Er kann überall hin mitgenommen werden, auf das Feld, zur Nachbarin, auf den Marktplatz usw., da er mit dem begonnenen und unvollendeten Webstück zusammengerollt werden kann und dann an jedem Ort sofort einsatzfähig ist. Damals wie heute werden ausgefeilte, farbenfrohe und symbolträchtige Muster in die Webstücke eingewebt, und zudem werden und wurden die Stoffe auch schon in vorspanischer und in historischer Zeit bestickt und mit Hilfe von Ton- oder Holzstempeln bedruckt. Gewebte Stoffe wurden vorrangig für folgende Zwecke benötigt: zur Bekleidung der Familie, als Handelsware, in Form von (Bett-)Decken insbesondere in den kälteren Hochland Regionen und als Zeremonialkleidung und als Tribut für die Herrschenden.

Die Kleidungsstücke wurden aus rechteckigen Stoffteilen angefertigt, die mit Hilfe von Nähten verbunden und erweitert werden konnten. Da diese Stoffe bereits fertige Ränder besaßen, konnten sie einfach um den Körper gewickelt getragen werden, ohne dass individuelle Passformen berücksichtigt werden mussten. Kleidung wurde also nicht maßgeschnitten, Ärmel, Manschetten, Kragen oder Knöpfe wurden nicht verwendet und waren unbekannt. Die typische Kleidung für Frauen bestand und besteht auch heute noch aus einem sogenannten „corte“, einem Wickelrock, der als rechteckiges Webstück um die Hüften gewickelt wurde und je nach Körpergröße der Trägerin zwischen Knie und Wade endete, und dem „huipil“, einer gewebten Tunika, die ebenfalls als rechteckiges Webstück mit einer in der Mitte eingewebten Öffnung über den Kopf gezogen und mit einem Band um die Taille herum befestigt wurde. Sehr beliebt und von nahezu jeder Frau und jedem Mädchen getragen sind die sogenannten „cintas“, sehr schmal gewebte Bänder von 4 bis 6 cm Breite und etwa 1 bis 2 Meter Länge, die entweder als Gürtel getragen oder in das Haar eingeflochten werden und die Frisuren der Frauen farbenfroh und fröhlich werden lassen. Hinzu kommt besonders im kühlen Hochland die „capa“, ein normalerweise reichbestickter ärmelloser Mantel, ebenfalls ein rechteckiges Kleidungsstück, das unterschiedliche Längen besitzen kann und entweder über einer Schulter verknotet oder als Umhang getragen wird.

Der hier beispielhaft abgebildete huipil aus Chichicastenango (Abb.2) kann folgendermaßen symbolisch gelesen werden: der Kopf der Trägerin, der durch die mittlere Öffnung des huipils gesteckt wird, steht für die Sonne, die von vielen Strahlen umgeben ist. Die vier eingewebten Medaillons des huipils repräsentieren die vier Ecken eines Maisfeldes und damit die Kardinalpunkte des Erdkreises, Nord und Süd, Ost und West. Doppelköpfige Adler und kleine stilisierte Tiere verorten die Trägerin des huipils innerhalb ihres Clans und innerhalb der familiären Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe und symbolisieren die agrarische Welt, in der die Trägerin lebt und arbeitet. Das Design ist als Kreuz angelegt, und die Trägerin steht in der Mitte dieses Kreuzes und somit im Zentrum ihres Universums, umgeben von Familie, Clan und für sie bedeutsamen Elementen. Dadurch fühlt sie sich beschützt, in Sicherheit und bewahrt vor jeglichen Unglücks- und Schicksalsschlägen.

Die spanischen Eroberer brachten nach der Eroberung Guatemalas (1524) eine Textil- und Bekleidungsproduktion mit, die sich hinsichtlich der Stoffe, Werkzeuge und Techniken deutlich von denen unterschied, die in der Zeit vor ihrer Ankunft in Mesoamerika verwendet wurden. So führten sie neben der Schafzucht auch die Wolle als Textilmaterial zur Herstellung von Kleidung ein, ebenso das Spinnrad und den pedalbetriebenen Webstuhl und die mit der Schneiderei verbundenen Techniken des Maßes und des Zuschneidens. Bis zur Ankunft der Europäer gab es keine Schafe und folglich auch keine tierische Wolle auf den beiden amerikanischen Kontinenten, und auch die Vorstellung, dass ein Kleidungsstück unter Anpassung an die individuellen Körpermaße anzufertigen sei, stammt aus Europa und war und ist den indigenen Ethnien der beiden amerikanischen Kontinente völlig fremd. Die spanischen Kolonisatoren haben also viele Bereiche des kolonialen Lebens reglementiert und dabei selbstverständlich auch die Kleidung nicht ausgelassen. So führten sie das Zunftwesen ein, das sie von zuhause kannten, und sie brachten spanische Handwerker, Schneider und Weber mit, die ihre Waren und Dienstleistungen in eigenen Werkstätten nur innerhalb dieses Zunftsystems anfertigen durften. Das Weben mit dem Pedal-Webstuhl etablierte sich somit als eine Arbeit für Männer, und auf diesen Webstühlen wurde vorrangig die europäisch beeinflusste Männerkleidung der Kolonialherren gefertigt, zu der die indigene Bevölkerung keinen Zugang hatte und die ihr verboten war zu tragen. Die Frauen der Mayas fertigten also weiterhin, auch nach der Eroberung, in unveränderter Weise Wäsche und Kleidung für die indigene Bevölkerung und für den familiären Gebrauch an, und zwar weiterhin mit Hilfe des Rückengurt-Webgeräts an, der bereits seit vielen Jahrhunderten in Gebrauch war.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es erneut zu tiefgreifenden Veränderungen in der Textilherstellung durch das Vordringen synthetischer Farbstoffe, besonders das 1871 in England und Deutschland patentierte Alizarin, ein synthetischer roter Farbstoff, ersetzte in großem Umfang innerhalb weniger Jahre fast alle roten und purpurnen natürlichen Pflanzenfarben, so dass sich in Folge auch die Farbpalette der Trachten und Kleidungsstücke der indigenen Weberinnen grundlegend veränderte. Und auch im 20. Jahrhundert sind die Trachten zahlreichen Veränderungen ausgesetzt, Baumwolle wird fast nirgendwo mehr von Hand gesponnen, und der Gebrauch merzerisierter Baumwolle sowie acrylischer und metallischer Rayons und Synthetik-Garne hat sich vollständig durchgesetzt. Stark verändert haben sich auch die Stickereien, besonders die mit Näh- und Stickmaschinen gefertigten Blumen und Blütenmotive. Dennoch haben die unterschiedlichen Trachten, vor allem die der Frauen, in den Gemeinden des Hochlands nach wie vor überlebt und sind erhalten geblieben, während die Trachten der Männer nahezu vollständig aufgegeben wurden. Dies erklärt sich durch deren Saisonarbeit auf den Plantagen, die ethnische Diskriminierung, denen die Träger der Trachten ausgesetzt waren und auch kulturell bedingte Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Unverändert benutzen viele Weberinnen auch heute, im 21. Jahrhundert, nach wie vor das Rückengurt-Webgerät zur Herstellung von Kleidung für die Familie, doch zunehmend auch zur Produktion von Webwaren für den nationalen und internationalen Markt, besonders in Kooperativen und Produktionsgemeinschaften in touristisch erschlossenen Regionen. Dort ist die Herstellung und der Verkauf der Webstücke inzwischen zu einer Haupteinanahmequelle der indigenen Hochland-Gemeinden geworden.

Seit den späten 1990er Jahren ist darüber hinaus ein Erstarken der indigenen Rolle zu beobachten, so dass insbesondere unter den indigenen Frauen mit höherer oder akademischer Bildung ganz bewusst Kleidung inzwischen als Zeichen ihres kulturellen Erbes und als Symbol ihrer ethnischen Zugehörigkeit getragen wird - Kleidung, die sie als Maya identifizierbar macht. So haben die genannten Veränderungen bislang keineswegs dazu geführt, dass die Trachten ihre Bedeutung verloren haben, denn sie vereinen Elemente aus dem vorspanischen wie aus dem kolonialen Erbe und reflektieren die lange Geschichte eines indigenen Volkes, das sich vor mehr als 3500 Jahren im Hochland Mittelamerikas niedergelassen hat. Lebt das vorspanische Erbe im Rückengurt-Webgerät und im gewickelten corte und dem huipil der Frauen weiter, so hat die koloniale Epoche besonders in der Männertracht ihre Spuren hinterlassen. Und die jüngste Geschichte mit ihren für die Maya verheerenden politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen und den Menschenrechtsverletzungen, Grausamkeiten und dem Völkermord, die sie in den Jahren der Diktatur in den 1980er und 1990er Jahren erleiden mussten, hat die Tracht heute zu einem neuen und alten Symbol ihrer erstarkenden Identität werden lassen.

 

Bibliografie:

 

Jeffrey Jay Foxx: The Maya. Textile Tradition. 1997.

Museo Ixchel del Traje Indígena of Guatemala City //Webseite:  https://museoixchel.org/

Webkunst der Maya in Guatemala, Ausstellungskatalog des Roemer-& Pelizaeus-Museum Hildesheim, Verlag Phillip van Zabern, 1992

Alle Fotos stammen von meinen Reisen nach Guatemala, Mexiko, Honduras und Belize in 1994, 1996, 2001, 2002, 2011, 2015/
Copyright Dr.Daniela Dienst-Loth

 

 

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