Der Teppich von Bayeux

 

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Quelle: http://www.stephen.j.murray.btinternet.co.uk/hastings.htm, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1481428

 

Der sogenannte „Teppich von Bayeux“ ist eigentlich kein Teppich, sondern ein mit Wollfäden bestickter Leinenstreifen, der seit 1982 in einem speziell für dieses textile Kunstwerk eingerichteten Museum der Stadt Bayeux ausgestellt ist. Der Teppich wird zuweilen auch als Bildteppich der Königin Mathilda von Flandern nach der Gattin Wilhelm des Eroberers bezeichnet und gehört seit 2007 zum UNESCO-Programm „Memory oft the World“. Die Aufnahme in das UNESCO-Programm belegt die Bedeutung, die diesem Werk der Textilkunst aus heutiger Sicht beizumessen ist.

Der Teppich gilt heute als das älteste noch erhaltene textile Kunstwerk Europas, das wir kennen. Die ca. 50 cm hohe Stickerei, die im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts entstanden ist, hat mit 70,34 Meter eine außergewöhnliche Länge. Aber anders als viele andere Kunstwerke dieser Zeit diente sie zweifellos nicht der religiösen Erbauung, sondern schildert profane, also weltliche Geschehnisse, die eine zeitgeschichtliche Bedeutung und damit dokumentarischen Charakter haben.

Die gestickten Darstellungen schildern die Geschichte der Eroberung Englands durch die Normannen im Jahre 1066 in der Schlacht von Hastings sowie die Vorgeschichte dieses Ereignisses, und zwar nicht nur den Hergang der Schlacht selbst und die nachfolgende Machtübernahme durch den normannischen Herrscher Wilhelm („Wilhelm der Eroberer“), sondern verweisen auch auf die Vorgeschichte diese Ereignisses und damit auf die Streitigkeiten rund um die mangels eigener Nachkommen ungeklärte Nachfolgefrage zwischen dem letzten angelsächsischen König Edward (Edward der Bekenner) und dem Earl of Wessex, Harold Godwinson. Dabei folgt die Stickerei kontinuierlich von links nach rechts einer ununterbrochenen Reihe von insgesamt 58 Einzelszenen, die die Geschichte der normannischen Invasion vorführt. Aus diesem Grund ist der Teppich zuweilen auch als „der erste Comic“ der Kunstgeschichte bezeichnet worden.

Die Randborten des Teppichs zeigen u.a. Tiere, Pflanzen, Fabeltiere und Fabelszenen, also Schmuckelemente aus vorchristlicher Zeit und lateinische (heute unvollständige) Erläuterungen zu den Darstellungen. Die Details des Hauptfrieses wiederum geben Aufschluss über viele Aspekte des mittelalterlichen Lebens, so z.B. Einzelheiten zu Schiffbau, Jagd, Kampf und Ausrüstung mittelalterlicher Krieger ebenso wie zur Frühjahrsbestellung der Felder, der Zubereitung von Mahlzeiten, Tracht, Frisuren und Schmuck.

 

Die Stickerei zeigt auch die erste bekannte bildliche Darstellung des Kometen Halley, der um die Zeit der dargestellten Ereignisse (1064-1066) den sonnennächsten Punkt erreichte.

 

Szene 32 mit dem Kometen Halley
Quelle: Image on web site of Ulrich Harsh. - http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost11/Bayeux/bay_tama.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17142094

 

 

Insgesamt sind 623 Menschen dargestellt, fast ausnahmslos Männer, der gesamte Teppich zeigt nur drei (!) Frauen, eine der dargestellten Frauen ist Königin Edith, der Gattin König Edwards, die zweite Frau wird zwar namentlich benannt, jedoch handelt es sich um keine historisch bekannte Person, wir wissen nicht, wer die geheimnisvolle Aelfgyva ist, die dritte Frauengestalt ist unbekannt und wird nicht namentlich genannt.

 

Der die Stickerei tragende Leinengrund ist in neun Stücken gewebt worden, die Stücke sind zwischen ca. 6 und 13,5 Meter lang und mit Nähten aneinandergefügt worden. Gestickt wurde vermutlich mit Bronzenadeln, die Wollfäden der Stickerei wurden ausschließlich mit Pflanzenfarben, so u.a. Färberresede, Färberwaid und Färberkrapp gefärbt, insgesamt wurden zehn verschiedene Farbtöne verwendet. Die unterschiedlichen Schattierungen reichen von rötlichem Gelb und Ocker über Terracotta-Rot, Blaugrün, Resedagrün, Olivgrün und Blau bis hin zu bläulichem Schwarz, insgesamt wurden ca. 45kg Wolle verarbeitet. Neben Stepp- und Stilstichen wurden die Stickflächen mehrheitlich in der sogenannten Auflegetechnik (auch Bayeux-Technik) gearbeitet, dabei werden die Fäden dicht an dicht nebeneinander auf die Leinwand gesetzt und darüber wird eine zweite Stickerei als fixierende Schicht gelegt, die die reliefartig aufgelegten Fäden in der Fläche anheftet und sichert.

 

 

Detail „Auflegetechnik“
Quelle: Wikimedia Commons, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2298460

 

Trotz einiger Beschädigungen und ungeachtet des fehlenden Abschlusses - die letzten etwa 1,4 m der Bildgeschichte fehlen und sind seit Jahrhunderten verschollen, wir besitzen also keinerlei Vorstellung davon, wie die Bildergeschichte endete -, hat der insgesamt erstaunlich gut erhaltene Teppich die letzten 900 Jahre nahezu unbeschädigt überdauert.

Wissenschaftlich ungeklärt sind nach wie vor Entstehungsort und Auftraggeber, wobei die unterschiedlichen „Lagern“ angehörenden Experten die Auftragsarbeit entweder als normannische Rechtfertigung für die gewaltsame Eroberung Englands sehen oder aber als unter den Angelsachsen begonnene Chronik definieren, die die Unrechtmäßigkeit der Eroberung anprangerte, aber durch nachträglich vorgenommene normannische Kaschierungen und Verbrämungen der wesentlichen Schlüsselszenen des Machtgefüges zwischen den drei beteiligten Herrscherhäusern im Sinne der Sieger „geschönt“ worden sei. Bislang gilt den meisten Experten Odo, Bischof von Bayeux und Bruder des Normannenkönigs Wilhelms als wahrscheinlichster Auftraggeber.

Wo hing der Teppich nach seiner Fertigstellung und für welchen Ort wurde er hergestellt? Auch auf diese Fragen weiß die Wissenschaft (noch) keine abschließende Antwort, es gibt keine schriftlichen Quellen, die dazu Auskunft geben könnten. Denkbar sind zwei Bestimmungsorte: der Teppich könnte zum einen als Schmuck für einen Palastsaal oder die königliche Halle des Normannenkönigs Wilhelm quasi als Werk normannischer Bildpropaganda gedacht gewesen sein, schließlich waren Wandteppiche im Mittelalter in den Hallen der Mächtigen weit verbreitet. Zum anderen könnte er aber auch alternativ für eine Kirche oder Kathedrale als Innenraum-Bildteppich zur Erbauung der Gläubigen zu besonderen Festen ausgestellt worden sein. Beides wäre in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Bestimmung und Funktion des Werkstücks als „mobiles Triumphdenkmal“ zu sehen: Zielstrebig und nachhaltig wird der Betrachter, nicht zuletzt durch die einfachen Texte, darüber belehrt, wie die Geschichte verlief, und es wird nachdrücklich davor gewarnt, sich gegen die normannische Herrschaft aufzulehnen, etwa indem bildhaft brennende angelsächsische Häuser als Strafaktion der Normannen vorgeführt werden.

 

Außerdem ist nach wie vor ungeklärt, an welchem Ort und in welchem Land die Werkstätte arbeitete, in der er gefertigt worden ist, die heutige Forschung plädiert in der Mehrzahl für Südengland, aber es gibt auch Stimmen, die eine Entstehung in Bayeux, also im Zentrum der Normandie ins Feld führen. Dafür spricht, dass der Teppich sich seit etwa 1420 offenbar als fester Bestandteil des Kirchenschatzes im Besitz der Kathedrale von Bayeux befand. Andererseits sind die kurzen Texte in einem eher einfachen Latein gehalten, was wiederum für eine angelsächsische Herkunft des Entwurfs spricht. Zudem gab es in Südengland, besonders rund um Canterbury, bereits im Frühmittelalter mehrere angesehene Schulen und Werkstätten für dekorative Stickerei, nicht jedoch in der Normandie.

Leider gibt es auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, wer bzw. wie viele Stickerinnen innerhalb welchen Zeitraums den Teppich herstellten. Die Forschung geht heute vor allem aufgrund der Einheitlichkeit in der Form- und Farbgebung des Originalteppichs von der Herstellung durch eine vielköpfige und erfahrene Ateliergemeinschaft aus. Vermutet wird, dass der Entwurf des Frieses von einem Künstler stammt, der von der Schlacht als Zeitzeuge direkte Kenntnisse hatte, und dass es sich um eine Auftragsarbeit handelt, die in einer professionellen Werkstatt ausgeführt wurde. Zweifellos waren mehrere Stickerinnen zugleich tätig, um das gigantische Projekt zu realisieren. Im Jahr 1885 wurde eine Kopie des Werks begonnen, und damals teilten sich immerhin rund 40 Frauen der „Leek Embroidery Society“ die zweijährige Arbeit bis zu deren Vollendung im Jahre 1887, unter zwar unter Hinzuziehung der im 19.Jahrhundert verfügbaren technischen Erleichterungen rund um das Thema Weben, Spinnen und Färben. Diese weitgehend originalgetreue Kopie findet sich heute im Stadtmuseum von Reading.

 Bekannt ist, dass Königin Edith, die Gattin Edwards, nach der Schlacht von dem Sieger Wilhelm in das Kloster von Winchester „verbannt“ wurde, zeitgenössische Quellen beschreiben Edith von Wessex als ungewöhnlich gebildete Frau, die großen Einfluss auf die Regentschaft Englands ausübte. Als Königin verwaltete sie die königliche Kleiderkammer und verfügte über Verbindungen zu zahlreichen, meist in Klöstern angesiedelten Werkstätten, die Textilarbeiten ausführten. So verfügte auch das Kloster von Winchester über eine weithin bekannte und berühmte Stickereiwerkstatt, so dass die Vermutung naheliegt, dass Edith ihre letzten Jahre an ihrem Witwensitz in Winchester als Auftraggeberin mit dem Entwurf und der Ausarbeitung des Bildteppichs verbracht haben könnte. Ein zusätzliches Argument für sie als Auftraggeberin könnte sein, dass Edith als eine der wenigen auf dem Teppich abgebildeten Frauen in Edwards Sterbeszene verewigt wurde. Belegt werden konnte diese Hypothese bislang jedoch nicht.

 

König Edward auf dem Sterbelager, umgeben  von Getreuen und einer trauernden Frau (Königin Edith?)
Quelle: Von Image on web site of Ulrich Harsh. - http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost11/Bayeux/bay_tama.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17142018

 

 

Insgesamt mehr als 400 Publikationen beschäftigen sich mit dem Kunstwerk, die den verschiedensten Genres angehören, wenn auch die Mehrzahl der Publikationen historischen bzw. wissenschaftlichen Charakter hat. Kylie Fitzpatrick hat im Jahr 2003 einen anderen Zugang gewählt und hat den spannenden und sehr gut recherchierten historischen Roman „Der geheime Faden“ vorgelegt (auch als Audio-Hörbuch erschienen), der die Entstehungsgeschichte des Teppichs auf eine besondere Art beleuchtet. Sie stellt die drei Frauenfiguren des Teppichs in den Mittelpunkt ihrer Geschichte und hat damit einen völlig neuen Zugang zu dem Kunstwerk eröffnet, der bislang so noch nicht vorhanden war: Madeleine, eine junge Historikerin, die an der Universität von Caen in der Normandie unterrichtet, findet im Nachlass ihrer kürzlich verstorbenen Mutter in deren Haus in Canterbury die Abschrift eines uralten lateinischen Schriftstücks, dessen Herkunft zunächst noch ungeklärt und rätselhaft bleibt. Im Zuge ihrer weiteren Recherchen findet Madeleine heraus, dass es sich bei dem Originaldokument, von dem ihre Mutter die Abschrift vorgenommen wurde, um eine mittelalterliche Chronik, genauer um das Tagebuch einer der Stickerinnen des Teppichs von Bayeux handelt. Es gelingt ihr, die originale Handschrift, die sich seit Jahrhunderten nach wie vor im Besitz der Familie einer entfernten und hochbetagten Tante von Madeleines Mutter befindet, ausfindig zu machen und deren Besitzerin davon zu überzeugen, dass diese übersetzt und der Wissenschaft zugänglich gemacht werden muss. Bei der Übersetzung des Dokuments schließlich erfährt Madeleine immer mehr Geheimnisse, über denen bislang der Schleier der Vergessenheit lag, und entschlüsselt letztlich die gesamte Tagebuchchronik, die bis in ihre eigene Familie zu reichen scheint. So entspinnt sich eine wechselseitige Geschichte, die gleichzeitig in der Gegenwart und in der Zeit der Entstehung der Stickarbeit spielt, denn wir erfahren über die Rückblicke in der Niederschrift der Stickerin eine faszinierende Menge an Detailinformationen über die Entstehungsbedingungen der Stickerei ebenso wie über die Lebensbedingungen der Stickerinnen selbst, und nicht zuletzt werden dadurch auch die auf dem Teppich dargestellten historischen Ereignissen kurz vor und in der Zeit der Eroberung Englands aus dem Blickwinkel dieser drei Frauen geschildert. Fitzpatrick gelingt es dadurch, den beiden unbekannten Frauen auf dem Teppich, die ja dort namentlich nicht genannt und dadurch nach wir vor nicht identifiziert werden können, ein Gesicht und damit eine Identität zu verleihen, die der Wirklichkeit durchaus nahe zu kommen vermag, so dass die Leserin nicht umhin kann zuzustimmen: … so könnte es tatsächlich gewesen sein.

Und damit wird zugleich auch die Frage nach der Bedeutung dieses frühen Kunstwerks der Textilkunst für uns als Stickerinnen und/oder Quilterinnen beantwortet, denn schon immer und über viele Jahrhunderte hinweg und in nahezu allen Regionen der Welt haben Quilterinnen als „Hüterinnen einer Fundgrube von Stick-, Farb-und Schnittmustern von großer Komplexität und Schönheit“ die Mythen und die Geschichte der Völker dokumentiert – und wir sind es auch, die die „verborgene“ Geschichte aufschreiben, indem wir dafür sorgen, dass die Biographien und die Arbeiten unzähliger Frauen und Quilterinnen, die vor uns da waren und die Kunstwerke aus Stoff und Fäden erschufen, erhalten und im Andenken der nachfolgenden Generationen lebendig bleiben. Oder, um es mit Tula Pink im Vorwort zu ihrem Band „Modernes Quilten“ zu sagen:

Die Arbeit an einem Quilt gibt unserem Leben jenen tieferen Sinn jenseits von Gestern, Heute und Morgen, und so sparen wir uns die Zeit von unserem beschäftigten Leben ab und verwandeln Abstellräume, Lieblingsplätze und Hinterzimmer in Orte unserer Arbeit. Wir reisen weit, wörtlich wie spirituell und virtuell, um mit Unseresgleichen zusammen zu sein, um unsere Geschichten auszutauschen und um unser Leben und unsere Talente bei dem angenehmen Summen einer Nähmaschine zu teilen.

 

 

Bibliographie:

Hicks, Carola, The Bayeux Tapestry – The Life Story of a Masterpiece, Vintage Books, London 2007 (ISBN 9780099450191)

Fitzpatrik, Kylie, Der geheime Faden, Schröder Verlag 2003 (ISBN: 9783548259680)
als ungekürztes Hörbuch im Radioropa-Verlag 2006 erschienen (ISBN: 978866673298)

Grape,Wolfgang, Der Teppich von Bayeux. Triumphdenkmal der Normannen, Prestel Verlag 1994, ISBN 9783763243198

Centre Guillaume le Conquérant,
Link zum Museum Bayeux: www.bayeuxmuseum.com
Die Webseite des Museums zeigt den kompletten Teppich in hoher Auflösung.

https://de.wikipedia.org/wiki/Teppich_von_Bayeux oder: www.wikipedia.org:  Suchbegriff „Teppich von Bayeux“

Pink, Tula/Angela Walters, Modernes Quilten, LV Buch 2016, ISBN: 9783784355092

 

 

publiziert in Gilde Zeitschrift Patchworkgilde 2/22

 

 

 

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